Gedankenversunken schlenderte ich durch die Straßen Englands, während ich mich nach einem Kleid für den heutigen Ball umsah. Es durfte auf keinen Fall mein Budget von etwa 200 Pfund überschreiten, und das hieß, dass meine Suche ziemlich schwierig sein würde. Meine Mum war zwar eine Lady gewesen, aber auch nur, weil sie entfernte Verwandte hatte, die adelig waren, aber als sie einen einfachen Kaufmann heiratete, war unser Ansehen sehr schnell gesunken. Und nachdem meine Mutter vor etwa zehn Jahren gestorben war, weil sie sich eine starke Lungenentzündung geholt hatte, saß mein Vater jeden Tag und jede Nacht vorm Fenster und trank eine Flasche Brandy nach der anderen. Da mein Vater nicht mehr arbeiten ging, war unsere Familie recht arm, sodass ich und meine Schwester Melody, die etwa ein Jahr älter war als ich, gewöhnlich arbeiten mussten. Ich jobbte regelmäßig als Dienerin in einem nahegelegenen Herrenhaus. Ich verdiente dort zwar ganz gut, aber trotzdem reichte das Geld meist nicht aus, weshalb ich mir auch keine derart teuren Kleider kaufen konnte. Eigentlich brauchte ich mir gar keine Kleider zu kaufen, aber seit einigen Wochen hatte ich eine neue Leidenschaft entdeckt: Bälle!
Seitdem ich als Dienerin bei einem all dabei gewesen war, war ich total davon begeistert. Die tanzenden Menschen, die alle überglücklich lachten, die neuen Bekanntschaften, die man auf den Bällen knüpfen konnte, die verliebten Gesichter, die flatternden Kleider, die bunten Farben.
Und dann konnte ich einfach nicht anders, als ein altes Kleid aus dem Schrank meiner verstorbenen Mutter zu holen, es etwas aufzupeppen und auf den nächsten Ball zu gehen. Ich gab mich einfach als Lady Lilian St. John aus, die einige Wochen hier verweilte, da ein entfernter Verwandter hier in London wohnte. Und wenn die Leute fragten, wer dieser entfernte Verwandte war, musste ich ganz schnell nach Hause, weil es schon so spät war. Allerdings ging ich nicht wirklich nach Hause, sondern blieb noch einige Zeit auf dem Ball. Ich musste nur aufpassen, dieser Person nicht wieder zu begegnen. Bisher hatte diese Taktik sehr gut funktioniert, allerdings war ich auch erst auf zwei Bällen gewesen. Aber heute gab eine sehr wohlhabende Familie, die neu hierhergezogen war, ein großes Fest, und ich konnte es mir einfach nicht nehmen, dorthin zu gehen. Ich hatte von anderen Dienern erfahren, dass die Familie aus dem entfernten Cambridge kam und sehr reich war. Und Diener hatten nun mal den Ruf, Tratschtanten zu sein, was mir aber ein großer Vorteil war, da ich auf den Bällen möglichst versuchen musste, den Gastgebern nicht zu begegnen. Meine Arbeitskollegen konnten mir die Leute meist sehr gut beschreiben, sodass ich sie auf den Bällen identifizieren konnte.
Nur heute hatte ich diesen Vorteil nicht, da die Familie erst neu hierhergezogen war, und noch nicht viele Leute sie gesehen hatten. Ich wusste lediglich, dass das Familienoberhaupt ein Duke, die höchste Rangstufe des Adels, war. Aber da die Familie neu war, würden sie sowieso nicht merken, dass es gar keine Lady Lilian St. John gab.
Die Straße wurde langsam lebendig, was hieß, dass ich mich mit dem Kleiderkauf beeilen musste. Denn ich war mit Sicherheit nicht die einzige auf der Suche nach einem schönen Kleid für den heutigen Ball. Aber ich war die einzige Dienerin, die dort verkleidet auftauchte. Also musste ich dafür sorgen, dass niemand mitbekam, dass ich ein Kleid kaufen ging. Aber das würde mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso kein Problem darstellen, da ich für die meisten Leute wie Luft war. Mein einfaches, braunes Kleid war so unauffällig, dass ich mich überhaupt niemand wahrnahm. Die meisten waren von den bunten Kleidern der Ladys, die durch die Straßen gingen, begeistert. Und auch ich war sehr von diesen wunderschönen Kleidern angetan. So sehr, dass ich immer wieder in meinen Gedanken und Träumen versank.
„Au, pass doch auf!“, rief ich als ich mit irgendwem zusammenstieß. Ich sah auf und blickte in wundervolle dunkelbraune Augen. Sofort senkte ich meinen Kopf wieder bis auf die Brust und stürmte an diesem Mann vorbei.
Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott! Wie konnte ich nur so unhöflich sein! Ich sah zurück, der Mann war inzwischen weitergegangen, und bemerkte welch edle Kleider er trug. Ein schwarzes zweireihig geknöpftes Frack aus Leinen, dazu schwarze Hosen aus Baumwolle und kniehohe Stiefel.
Gut, dass ich weggelaufen war, sonst hätte er mich anzeigen können! Ich musste endlich lernen, meinen Mund zu halten. Schon früher hatte meine Mutter mich für mein vorlautes, freches Mundwerk gescholten, doch ich konnte es mir nie richtig abgewöhnen. Das hatte ich nun davon.
Ich versuchte, den Vorfall irgendwie zu ignorieren, auch wenn mir das sehr schwer fiel, da ich diese Augen einfach nicht vergessen konnte, dennoch musste ich mich nun endlich auf die Kleidersuche konzentrieren.
Ich entschied mich, in das nächstbeste Geschäft zu gehen, auch wenn dies sehr teuer aussah.
„Guten Tag, Miss. Ich suche ein Kleid für meine Herrin. Allerdings darf es nicht zu teuer sein. Sie ist knapp bei Kasse.“, äußerte ich mich.
„An welchen Preis dachten sie denn da?“, fragte die Frau und machte schon ein angewidertes Gesicht.
„Ehm, etwa 200 Pfund.“, sagte ich kleinlaut und die Frau zog eine Augenbraue hoch.
„In meinem Laden bekommen sie kein Kleid unter 500 Pfund.“, erwiderte sie hart.
„Haben sie vielleicht noch ein Kleid der letzten Saison?“
„Ja, aber damit wird ihre Herrin höchstwahrscheinlich nichts erreichen.“
„Das macht nichts. Wie viel soll es kosten?“, fragte ich.
„200 Pfund.“, entgegnete die Frau trocken. Ich wusste, dass dieses Kleid nichts wert wahr und dass ich es in jedem anderen Laden umsonst bekommen hätte, aber das war mir nun egal. Die Frau brachte mir das Kleid und ich gab ihr mein letztes Geld.
Schnell verschwand ich wieder in dem Getummel der Straße und lief unauffällig wieder nach Hause.
Zuhause ging ich sofort auf mein Zimmer und begutachtete mein neues Kleid. Es war saphirblau, hochgeschlossen, die Taille korsettartig und sehr lang.
Ich müsste es noch etwas verschönern, damit es der jetzigen Saison gerecht war. Am Saum schnitt ich etwa 5 cm ab, sodass es knöchellang war, wenn ich darunter ein paar Unterröcke trug und ein großzügiger Ausschnitt musste auch sein. Die Träger mussten weg, das Korsett war gut so. Anschließend nähte ich am Saum und am Ausschnitt ein schwarzes Band ein, sodass man nicht sah, dass ich daran herumgeschnitten hatte.
Ich betrachtete mein Werk und stellte fest, dass das Kleid nun wunderschön war. Das einzige Problem war nur noch, unbemerkt aus dem Haus zu gelangen. Mein Vater würde sowieso nichts merken, aber meiner Schwester Melody war das nicht so gleichgültig. Zumal ich jünger war als sie, würde sie mir niemals erlauben, alleine irgendwo hinzugehen, wo es gefährlich werden könnte.
Plötzlich schwang die Tür auf und Melody kam laut fluchend in den Raum, bis sie sah was ich in den Händen hielt und in ihrer Bewegung innehielt.
„Was machst du da?“, fragte sie.
Jetzt hatte ich ein Problem…
Zuletzt von Steffchen am Fr Jun 08, 2012 4:05 pm bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet